Dieser Beitrag ist erschienen in: INDES – Zeitschrift für Politik und Gesellschaft (Ausgabe 4/2016)
Demokratie und Gemeinwohl sind untrennbar verknüpft. Interessenvertretung und -ausgleich, politische Willensbildung und Repräsentation – all diese Elemente unseres demokratischen Gemeinwesens beziehen ihre Legitimität aus dem allgemeinen Wohl. Auf diese enge Verzahnung hat unlängst wieder der Politologe Wolfgang Merkel im Tagesspiegel aufmerksam gemacht: Direktdemokratische Verfahren müssten durch eine „institutionalisierte Gemeinwohlbindung“ abgesichert sein. Sonst bestehe die Gefahr der Instrumentalisierung durch aktivistische Minderheiten. Wie das funktionieren soll und was sich hinter dem Schlagwort verbirgt, das lässt Merkel freilich offen.
Hier klafft eine konzeptionelle Leerstelle, und zwar nicht nur bei Merkel. Die Verwendungsvielfalt und Schwammigkeit des Gemeinwohlkonzepts in der politischen Debatte ist derart groß, dass sich der Verdacht inhaltlicher Beliebigkeit aufdrängt. Nicht ganz ohne Grund hat der Soziologe Friedhelm Neidhardt das Gemeinwohl zu einer „Leerformel“ deklassiert, hinter der nichts stecke. Wenn dem so wäre, dann würde man besser daran tun, den Leitbegriff wegen Bedeutungslosigkeit aus unserem politischen Vokabular zu tilgen – und genau das fordern Autoren wie Frank Sorauf und William Riker schon seit langem.
Aber wir sollten das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Wer Interessen in der politischen Arena geltend machen will, ist gut beraten, die Gemeinwohldienlichkeit seines Anliegens zu demonstrieren oder grundsätzlich dessen allseitige Zustimmungsfähigkeit. Das einseitige Beharren auf Partikularinteressen widerspricht nicht nur dem Ethos demokratischer Entscheidungsfindung – es ist auch in der Regel nicht von Erfolg gekrönt. Die Frage nach dem Gemeinwohl lässt sich also nicht so leicht abschütteln. Wagen wir zuerst einen kurzen Parforceritt durch die akademische Debatte, um das Thema besser zu fokussieren.
Die subjektivistische, die objektivistische und die integrative Position
Subjektivisten, wie die Demokratietheoretiker Glendon Schubert, Ernst Fraenkel und Thomas Christiano, sprechen den Bürgern die Deutungshoheit über das Gemeinwohl zu. Indem diese ihre Interessen in den demokratischen Willensbildungsprozess einspeisen, gestalten sie das Wohl ihres Gemeinwesens selbst – wobei das Interesse jeder Person dieselbe Gewichtung hat. Entscheidend ist, dass das Gemeinwohl nicht unabhängig von den Präferenzen der Bürger besteht, sondern durch diese allererst konstituiert wird.
Daher charakterisiert Fraenkel das Gemeinwohl auch als „Resultante“, die sich aus dem „Parallelogramm der ökonomischen, sozialen, politischen und ideologischen Kräfte einer Nation ergibt“; und zwar genau dann, „wenn ein Ausgleich angestrebt wird“ und „die Spielregeln des politischen Wettbewerbs mit Fairness gehandhabt werden.“ Anschaulich wird das an einem Input-Output-Modell: Der System-Input besteht aus den Interessen der Bürger; diese werden vom politischen System durch faire Beteiligungsverfahren rezipiert und durch Politikentscheidungen, welche insgesamt den Gemeinwohl-Output bilden, implementiert.
Für Objektivisten ist das Gemeinwohl hingegen eine objektive Größe, ein nicht an Interessen oder kollektives Für-gut-Halten gebundenes Staatsziel, das durch Politikentscheidungen zwar durchaus gefunden, aber ebenso gut verfehlt werden kann. Kurz: Gemeinwohl ist das, was für das Gemeinwesen als Ganzes gut ist – egal, ob die Bürger das immer einsehen oder nicht. Zu den wichtigsten Vertretern dieser Position zählen der Mathematiker Marie Jean de Condorcet, der Staatsrechtler Eugen Forsthoff sowie der Philosoph David Est-lund. Sie alle eint eine Zielvorstellung: Weil das Gemeinwohl ein Erkenntnisobjekt ist und nicht einfach aus subjektiven Präferenzen aggregiert werden kann, müssen demokratische Mechanismen epistemisch maximal leistungsfähig sein.
Das Gütekriterium des politischen Systems ist daher weniger seine Fairness oder Konsensfähigkeit, sondern der effektive Einsatz von politischer Expertise zur Problemlösung. Bemerkenswerterweise haben viele Theoretiker darüber hinaus versucht, das objektive Gemeinwohl inhaltlich zu bestimmen – und zwar durch Güterlisten. Je nach Autor umfassen diese z.B. den Erhalt natürlicher Ressourcen, innere und äußere Sicherheit, Vollbeschäftigung oder auch die Bewahrung kultureller Traditionen.
Offenkundig haben beide Positionen konträr entgegengesetzte Vorzüge und Nachteile: Der Subjektivismus erkennt die Bürger zwar als autonome Gestalter ihres eigenen Wohles an und trägt damit einem Kerngedanken der Volkssouveränität Rechnung. Aber die Annahme, das Gemeinwohl ergebe sich ganz automatisch aus dem „Parallelogramm“ sozialer Kräfteverhältnisse, erscheint auch in gut funktionierenden Demokratien schlechterdings naiv. Der Objektivismus betont demgegenüber die Fehlbarkeit kollektiver Ent-scheidungsprozeduren und legt zurecht das Augenmerk auf die Bedeutung politischer Expertise für die Gemeinwohlbestimmung. Aber indem er das allgemeine Wohl gänzlich von den subjektiven Interessen der Bürger entkoppelt, verfällt er in ein zutiefst paternalistisches Politikverständnis.
Eine Reihe neuer Autoren, darunter der Staatsrechtler Michael Anderheiden und der Philosoph Christian Blum, versuchen angesichts dieser Pattsituation, einen Mittelweg zu gehen. Sie argumentieren dafür, dass das Gemeinwohl sowohl subjektive als auch objektive Aspekte hat. Kurz gesagt: Den Bürgern kommt zwar die Deutungshoheit über das Gemeinwohl zu – aber diese vollzieht sich innerhalb objektiver, von individuellen Präferenzen unabhängiger Rahmenbedingungen. Wie sich beide Komponenten zueinander verhalten und ob dieser Lösungsansatz überzeugt, ist eine schwierige Frage. Wir können sie an dieser Stelle getrost auf sich beruhen lassen. Die skizzierten Positionen sind zwar anregend und informativ, aber sie verharren größtenteils in einer abstrakten und akademischen Perspektive. Und diese ist aus Sicht der Politikberatung letztendlich weder befriedigend noch praxistauglich.
Das Gemeinwohl in seiner politischen Alltäglichkeit
Deshalb lohnt sich ein alternativer Ansatz: Statt des überambitionierten Versuchs, ein zu allen Zeiten und Orten gültiges Prinzip abzuleiten, wollen wir uns dem Phänomen Gemeinwohl in seiner politischen Alltäglichkeit annähern. Anders gesagt: Als Politikberater muss uns nicht vorrangig interessieren, was die Essenz des Gemeinwohls sein könnte, sondern wie sich das Gemeinwohl im politischen Alltagsgeschäft bildet, Akzeptanz findet und durchsetzt. Unser Startpunkt ist also nicht die Theorie, sondern die bewährte politische Praxis. Gleichwohl müssen wir die zuvor diskutierten akademischen Positionen nicht ad acta legen. Sie ergänzen unsere praxisorientierte Sichtweise und bilden zugleich eine Kontrastfolie. An dieser Stelle muss ein potenzielles Missverständnis ausgeräumt werden: Wenn wir die politische Praxis zum Startpunkt der Gemeinwohlbestimmung machen, bedeutet das noch keine Apologie des Status quo im Sinne des berühmt-berüchtigten Dictums von Hegel „Was wirklich ist, das ist vernünftig“. Natürlich verkörpern politische Mechanismen nicht per se das Gemeinwohl, nur, weil sie akzeptiert werden und funktionieren. Aber: Das Gemeinwohl ist primär ein praktischer Begriff und kein theoretischer Begriff, und also tun wir gut daran, ihn anhand seiner Verwendungs- und Funktionsweise im politischen Alltagsgeschäft zu beschreiben und explizieren. Letzteres muss nicht der Endpunkt unserer Betrachtung sein, aber es ist definitiv der Ausgangspunkt.
Von dieser Warte aus ist klar, dass wir dem Gemeinwohl durch objektive und Allgemeingültigkeit beanspruchende Merkmalskataloge nicht näherkommen. Was das Wohl eines konkreten Gemeinwesens ausmacht, ist immer und notwendig umkämpft, mit dem Beharren auf unumstößliche Wahrheiten kommen wir hier nicht weiter. Daher ist es auch irreführend, von der Deutungshoheit des Volkes über das Gemeinwohl zu sprechen. Es gibt nicht das demokratische Staatsvolk im Sinne eines homogenen Akteurs mit einem singulären Willen. Anstelle dieses Rousseau’schen Idealbilds haben wir es mit konkurrierenden sozialen Interessenformationen zu tun, die beständige Deutungskämpfe um das Gemeinwohl austragen.
Gleichwohl brauchen diese Deutungskämpfe einen Ordnungsrahmen. Diesen können wir sehr klar abstecken. Er umfasst erstens das Bekenntnis zum Demokratieprinzip, das jedem Bürger die gleichberechtigte Teilhabe an der politischen Willensbildung garantiert; und zweitens das Bekenntnis zum liberalen Rechtsstaat, das jedem Bürger dieselben Grundfreiheiten und Abwehrrechte garantiert. Diese politischen Normen legen die formalen, rechtlichen Spielregeln fest. Sie sind unhintergehbare Vorbedingungen gemeinwohldienlicher Politikgestaltung, weil sie gewährleisten, dass die Deutungskämpfe fair, effizient und effektiv ablaufen. Ihre Missachtung würde zur Privilegierung einzelner Interessenformationen führen und damit zu einer Verzerrung des Gemeinwohls.
Aber jenseits dieser formalen Rahmenbedingungen gibt es eine zweite Ordnungskategorie. Wir können sie der Einfachheit halber Deutungshorizonte nennen. Hierbei handelt es sich um diejenigen Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Verhaltensmuster der konkurrierenden Interessenformationen, die ihr jeweiliges Gemeinwohlverständnis bestimmen. Diese nicht-kodifizierten, aber dennoch wirkmächtigen sozialen, kulturellen und ökonomischen Kontexte legen erstens die Spielräume fest, innerhalb derer die Akteure im Ringen um das Gemeinwohl aufeinander zugehen können; und sie bestimmen zweitens, welche Themen für sie nicht verhandelbar sind. Offenkundig sind sie ebenso vielfältig wie die unterschiedlichen Interessenformationen der fraglichen Gemeinwesen. Sie umfassen etwa: die christliche Überzeugung von der Heiligkeit menschlichen Lebens, die patriotische Idee der Heimatverbundenheit oder das sozialdemokratische Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit; aber auch geteilte Riten wie Nationalfeiertage, Sankt-Martinsumzüge oder den rheinischen Karneval. Entscheidend ist, dass diese Werte, Rituale, Konventionen und Symbole konstitutiv dafür sind, wie wir – als sozial situierte Personen – Gemeinschaft und Gemeinwohl begreifen.
Diese Deutungshorizonte sind in einem gewissen Sinne ebenso unhintergehbar wie die bereits genannten politischen Normen. Wir können einfach nicht von ihnen abstrahieren, weil sie immer schon Bestandteile unseres Welt- und Selbstbilds, unserer Biographie und Sozialisation sind. Entsprechend gilt: Das Ringen ums Gemeinwohl ist niemals ein Ringen um das Gemeinwohl schlechthin, sondern stets ein Ringen um ein Gemeinwohl eines konkreten Gemeinwesens. Und jedes Gemeinwesen zeichnet sich durch eine spezifische Gemengelage von Werten, Ritualen, Konventionen und Symbolen aus.
Diese beiden Aspekte, die formalen politischen Normen und die nicht-kodifizierten Deutungshorizonte, markieren zusammen die Grenzen der Deutungskämpfe um das Gemeinwohl oder – um einen Ausdruck aus der Mathematik zu borgen – das Gemeinwohl-Integral. Wie dieses Integral verfasst ist und wie es sich in verschiedenen politischen Feldern manifestiert, das sind Fragen der politisch-praktischen Analytik. Hierfür braucht es keine großen Theorien.
Illusion der institutionalisierten Gemeinwohlbindung
Zum Verständnis der politischen Rechts- und Verfahrensnormen und ihrer praktischen Umsetzung genügt eine Kombination aus politischer Fachkenntnis, gesundem Menschenverstand und vor allem langjähriger Erfahrung mit Machtdynamiken in der Arena des Politischen. Die Deutungshorizonte des Gemeinwohls wiederum können mit der Methode der politischen Praxeologie erschlossen werden. Im Zentrum dieses von Pierre Bourdieu entlehnten Ansatzes stehen zwei Kernbegriffe: Praktik und Diskurs. Oder, weniger technisch formuliert: Tun und Sagen.
Um die relevanten Denk- und Handlungsschemata zu entschlüsseln, müssen wir Übereinstimmungen und Brüche zwischen Praktik und Diskurs in den Blick fassen. Konkret heißt das: Wo zeigen sich Diskrepanzen zwischen den Aussagen politischer Akteure und ihren faktischen Entscheidungen? – wie etwa bei der rhetorischen Fokussierung der extremen Linken auf universelle Grundrechte und progressive Werte bei gleichzeitiger Hinwendung zur Regierung Putin. Wo wird die Inszenierung politischer Rituale unterbrochen, gestört oder neu interpretiert? – wie etwa bei populistischen Bewegungen, die die Missachtung von sprachlichen Tabus des so genannten „Establishments“ zum Programm erhoben haben. Und wo werden politische Symbole mit neuem Gehalt gefüllt und mit anderen Konnotationen versehen? – wie etwa beim vielzitierten „Party-Patriotismus“ der WM 2006, als die schwarzrotgoldene Flagge plötzlich zum akzeptierten Accessoire von Fußballfans wurde.
Die Brüche und Störungen sind deshalb so wichtig, weil nur hier – und oft auch nur für einen kurzen Moment – die tatsächlichen Strategien, Taktiken und Wertorientierungen der Interessenformationen sichtbar werden. Wenn wir diese Widersprüche (und Parallelen) dokumentieren, in seriellen Aufzeichnungen gegenüberstellen und vergleichen, dann können wir die Deutungshorizonte des Gemeinwohls präzise beschreiben.
Freilich sollten wir nicht der Illusion erliegen, mit einer einmaligen Beschreibung sei es getan. Die verschiedenen Deutungshorizonte spiegeln die Machtverhältnisse der Akteure wider, diese sind umkämpft und wandelbar. Deshalb ist die politische Praxeologie nie beendet. Sie ist eine kontinuierliche Aufgabe der Politikberatung.
Kommen wir zum Schluss noch einmal auf die eingangs erwähnte Forderung nach einer „institutionalisierten Gemeinwohlbindung“ der Demokratie zurück. Inzwischen sollte deutlich geworden sein: Diese Forderung ist zu hoch gegriffen. Weil das Gemeinwohl stets umkämpft ist und sich durch keine objektive Kriterienliste permanent fixieren lässt, kann es eine solche Absicherung nicht geben. Mit dieser Aufgabe wären Politiker, Philosophen, Demokratietheore-tiker und nicht zuletzt auch wir Politikberater überfordert.
Was wir allerdings leisten können, ist das Integral des Gemeinwohls, also die Deutungshorizonte und Spielregeln dieser Kämpfe, präzise zu beschreiben und zu analysieren. Wenn uns das gelingt, dann sind wir dem Phänomen ein gutes Stück nähergekommen.