Der Überfall Russlands auf die Ukraine ist die große weltpolitische Zäsur unserer Zeit. Er hat nicht nur die NATO revitalisiert und dem Westen als geopolitischer Interessenformationen eine neue, längst verloren geglaubte Einheit beschert – er hat auch eine 77-jährige Lebenslüge der deutschen Außen- und Geopolitik beendet. Das beherrschende Narrativ, alle zwischenstaatlichen Konflikte seien durch Scheckbuchdiplomatie und Verhandlungen auf der Grundlage ökonomischer Parameter lösbar, hat dem politischen Realitätscheck nicht standgehalten. In der deutschen Diplomatie erschöpften sich seit der Nachkriegszeit die Machtressourcen politischer Drohungen im Ausüben wirtschaftlichen Drucks. Der Einsatz militärischer Mittel als letzte Stufe einer kontinuierlichen Steigerung diplomatischer Drohpotentiale fand im Gegensatz zu den USA, Frankreich oder England dort keinen Platz. Ein militärischer Einsatz war und ist für deutsche Diplomatie immer das ganz Andere – eine ganz und gar außeralltägliche Situation, die unsere Politiker nicht am Verhandlungstisch ins Spiel bringen. Dieses Außeralltägliche der militärischen Macht zu denken, fällt den Deutschen – geschichtsbedingt – schwer. Daher entwickelte sich auch in den letzten Jahrzehnten unter Intellektuellen und Politikern verschiedenster Lager das Konzept der „postheroischen Gesellschaft“. Doch im Angesicht des ukrainisches Abwehrkampfes gegen die russischen Invasoren rücken vermeintliche Sekundärtugenden wie Tapferkeit und Standhaftigkeit wieder in den Fokus des gesellschaftspolitischen Diskurses.
Unversehens ist die Bundesregierung in einem internationalen Politiksystem erwacht, in dem staatliche Macht konsequent wieder auf militärische Aktionsmacht zurückgeführt wird – also auf die brachiale Fähigkeit, Menschen und Material unmittelbaren, verheerenden Schaden zuzufügen. Diese Lektion, die uns spätestens seit Thomas Hobbes Leviathan wohlvertraut sein sollte, aber gleichwohl unter dem Eindruck einer allzu großen Friedensseligkeit in den letzten Jahrzehnten immer wieder in Vergessenheit gerät, impliziert zugleich: Andere Formen der Machtausübung, auch Diplomatie, können nur erfolgreich eingesetzt werden, wenn sie ausreichend durch militärische Ressourcen flankiert und abgesichert sind. Ein Gleichgewicht staatlicher Macht in der geopolitischen Auseinandersetzung beruht letztlich immer auf einem Gleichgewicht militärischer Aktionsmacht. Geopolitik als Machtpolitik ist somit immer Gleichgewichtspolitik, und diese kann nur als Realpolitik Bestand haben.
Der Grundsatz, dass militärische Aktionsmacht von Geopolitik nicht trennbar ist, gilt, seitdem es zentralistisch gesteuerte Territorialstaaten gibt. Somit geht die „Zeitenwende“, die Olaf Scholz in seiner Rede zum Ukrainekrieg Ende Februar heraufbeschworen hat, nicht auf eine Veränderung der Fakten zurück. Nicht die Welt hat sich geändert, sondern nur die Sichtweise der deutschen Politik auf diese Welt, eine Welt, die Europa 77 Jahre Frieden beschert hat. Damit ist auch der Ausnahmefall zur Normalität bestimmbar, der Europa eben gerade nicht als friedlichen Kontinent in der Geschichte beschreibt. Deswegen kann die Bereitschaft Vladimir Putins, westliche Sanktionen und die Schwächung der russischen Volkswirtschaft um der eigenen Territorialgewinne willen in Kauf zu nehmen, nur diejenigen überraschen, die politische Rationalität ausschließlich anhand von Dollar, Euro und Rubel quantifizieren. Die fundamental anders-, ja, fremdartige Perspektive der russischen Führung passt nicht in ein Politikverständnis, nach dem außenpolitische Interessen und Wirtschaftsinteressen Synonyme sind. Nur unter extremem politischem Druck ihrer westlichen Verbündeten hat sich die Bundesregierung einem realistischen Blick auf die Geopolitik geöffnet. Ob man diese politische Realität jedoch tatsächlich akzeptiert, ist weiterhin nicht ausgemacht. Die westlichen Verbündeten erwarten zumindest, dass Deutschland seine Führungsrolle in Europa endlich annimmt.
Diese neue realistische deutsche Außen- und Geopolitik war keine freiwillige politische Entscheidung. Der Druck zur Kehrtwende ergab sich konkret durch die Diskrepanz zwischen zwei Polen: einem neoinstitutionalistischen Friedensnarrativ, dessen Maximen „Wandel durch Handel“ und „Einbinden um jeden Preis“ waren, sowie einem weltfernen Selbstverständnis Deutschlands als „große Schweiz“ auf der einen Seite – und einer globalen Machtpolitik auf der anderen Seite, die sich nicht dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments, sondern nur der Gegenmacht beugte. Bereits Ende 2019 hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Mitgliedsstaaten aufgefordert, endlich die „Sprache der Macht“ zu erlernen; Deutschland, scheint es, beginnt nun mit großer Verspätung, die ersten Vokabeln zu büffeln.
Aber der Ukrainekrieg hält auch in anderer Hinsicht Lektionen der Macht bereit. Die Form der russischen Kriegsführung zeigt die Grenzen einer rein gewaltbasierten Machtausübung. Wer, wie Putin, an dem Begründungsnarrativ der „Befreiung des ukrainischen Brudervolkes von den Faschisten“ festhalten will, auch, um seinen eigenen Truppen und die Heimatfront nicht zu demoralisieren, darf keinen umfassenden Vernichtungskrieg führen. Genau dieser Grundsatz ist spätestens mit den Kriegsverbrechen von Butscha auf grausame Weise verletzt worden. Hier offenbart sich ein strategisches Dilemma: Soll man Zivilisten schonen, um das eigene Narrativ zu erhalten, dafür aber militärische Misserfolge in Kauf nehmen oder soll man sie nicht schonen, um militärische Erfolge zu erringen, damit aber erkennbar sein Narrativ aufgeben? Die berühmte Machtdefinition von Max Weber, wonach Macht auf Zwangsressourcen zur Durchsetzung des eigenen Willens gegen Widerstände beruht, sie kann auch immer mit Ohnmacht einhergehen; in diesem Falle der Ohnmacht, Kiew aus freien Stücken heim ins russische Imperium zu holen. Es ist diese Ohnmacht, die zu einem militärstrategischen Desaster durch eine völlig unzureichende Kriegsvorbereitung auf russischer Seite und im Kriegsverlauf zu einem radikalen Motivationsabfall bis hin zu Desertationen einzelner russischer Truppenteile geführt hat.
Dies sollte uns Anreiz geben, in der Geopolitik wie auch in der politischen Theorie über Weber hinaus- oder besser zurückzudenken – konkret zu Aristoteles. Dieser hatte vor über 2000 Jahren Macht bereits als „dynamis“ verstanden, als Fähigkeit der konstruktiven, zielgerichteten Gestaltung und Veränderung. Unter diesem Blickwinkel ist Macht viel mehr als Zwang und Durchsetzung; sie ist strategische Kapazität, die über Nullsummenspiele hinausdenkt, multifaktoriell Lösungen entwickelt und – im Falle der Ukraine – militärische, ökonomische und diplomatische Parameter zusammendenken kann.
Wie geht es aus machtstrategischer Sicht nun weiter? Eine Konfliktlösung beziehungsweise eine Beilegung des Krieges kann final nur auf diplomatischem Wege erfolgen, gestützt auf militärische Erfolge und einer Bewertung des Gleichgewichts von Ressourcen. Hier sei an das Bonmot Theodor Roosevelts „Speak softly and carry a big stick“ erinnert, der die implizite Androhung von Aktionsmacht einerseits und Diplomatie andererseits immer als zwei Seiten derselben Medaille verstand. Diplomatie als Machtausübung ist in diesem Moment die Zurückforderung des Politischen. Sie ist mithin die Vermeidung machtpolitischer Nullsummenspiele („Was ich gewinne, musst Du verlieren“), die Neubestimmung von (Un-)Gleichgewichten und Aushandlung möglicher Win-Win-Konstellationen. Bis dahin ist es gegenwärtig noch ein schwieriger Weg. Aber der erste Schritt besteht darin, die Richtung zu kennen.