Eine gekürzte Fassung dieses Beitrags ist am 20.7.2016 im Handelsblatt als Gastkommentar unter dem Titel “Ein neuer Fokus” erschienen. Link folgt
Wie geht es weiter nach dem Brexit? Diese Frage beherrscht wie keine andere die Brüsseler Lobby-Szene. Noch gilt Belgiens Hauptstadt als Mekka für Interessenvertreter. Hier am Sitz von Rat und Kommission werden die entscheidenden europapolitischen Weichenstellungen vorgenommen. Die Bedeutung des Standorts drückt sich in schieren Zahlen aus: Auf 33.000 EU-Beamte kommen über 25.000 Lobbyisten. Beim Fußball würde man von Manndeckung sprechen. Hinzu kommen die Regierungen der Mitgliedsstaaten und Repräsentanten von Landesregierungen, die in Brüssel ebenfalls wie Interessenvertreter agieren. Das bayerische Schlösschen als Vertretung des Freistaates am Parlament veranschaulicht diesen Anspruch eindrucksvoll. Daher ist kaum verwunderlich, dass in Kommission und EU-Parlament diskutiert wird, ob sich Landtagsabgeordnete in das EU-Lobbyregister eintragen müssen. Mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU zeichnet sich indes ein Paradigmenwechsel ab.
Der Brexit setzt den Plänen der Brüsseler Entscheidungsträger für eine Vertiefung der Einheit der EU ein jähes Ende. Das auf Machtgewinn ausgerichtete Tandem von Kommission und Parlament ist an seinem Demokratiedefizit und an sich selbst gescheitert. Solange sich die Kommissionsmitglieder als Superfachleute und Hüter der Verträge verstanden, war Brüsseler Interessenvertretung in Sachfragen der Schlüssel zum Erfolg. Freilich hat sich diese bereits seit Antritt der Juncker-Kommission stark verändert. Die Konzentration der Kommission auf wenige Dossiers setzte Interessenvertreter unter Druck. Initiativen blieben liegen, neue Dossiers wurden gar nicht mehr eröffnet. Mit der Schrumpfung der EU-Beamtenschaar ging zudem eine Verkleinerung der Zeitfenster für Dialog und Konsens einher. Die Politisierung der Juncker-Kommission führte letztlich zu einem unterschwelligen Machtkampf zwischen Kommission und Rat.
Diesen Machtkampf haben die Mitgliedsstaaten in der Ära Brexit nun für sich entschieden. Das politische Paradigma der Zukunft lautet nicht mehr Supranationalität, sondern Intergouvernementalität. Die EU-Hauptstädte werden es sich nicht nehmen lassen, Kernthemen direkt untereinander auszuhandeln, ohne den Umweg über Brüssel zu gehen. Zudem werden sie sich noch stärker als demokratischer Gegenpol zu den EU-Institutionen inszenieren. Der europaweite Aufschrei gegen Jean-Claude Junckers Pläne, nur das Europäische Parlament über das Freihandelsabkommen mit Kanada abstimmen zu lassen, war erst ein Vorgeschmack. Bedingt durch die Austrittsverhandlungen der Briten zeichnet sich ein neues lobbyistisches Machtdreieck zwischen Berlin, London und Paris ab, in dem Frankreich fraglos Verhandlungsgeschick beweisen wird. Der Machtschwerpunkt in diesem Dreieck liegt allerdings bei Deutschland. Die Bundesrepublik hat durch den Brexit noch einmal deutlich an Einfluss gewonnen. Die rhetorische Frage Kissingers, „Who do I call if I want to speak to Europe?“, lässt sich nun klar beantworten: „Dial Berlin!“ Diese Sonderstellung wird bei den transatlantischen TTIP-Verhandlungen deutlich. Entgegen aller Widrigkeiten baut US-Präsident Barack Obama noch immer darauf, dass Angela Merkel das Abkommen in der EU durchsetzt. Kein Zweifel: Die Kanzlerin hat den britischen Premier als wichtigsten Ansprechpartner für die Vereinigten Staaten verdrängt.
Diese Entwicklungen haben gravierende Auswirkungen auf die Interessenvertretung. Zunächst werden britische Consultingunternehmen einen Boom erleben. Der Grund liegt auf der Hand: Zur Umsetzung des EU-Austritts braucht das Vereinigte Königreich dringend externe Expertise, und diese ist nur durch eine massive Personalvergrößerung der maßgeblichen Beratungsfirmen zu gewährleisten. Ob dieser Boom anhält oder nur temporär ist, bleibt allerdings abzuwarten. Zweitens stehen europäische Verbände vor der Entscheidung, britischen Mitgliedern künftig entweder einen Sonderstatus einzuräumen oder sie auszuschließen. Gut möglich also, dass sich letztere bald als Einzelkämpfer in Brüssel wiederfinden. Doch auch für Lobbyisten aus den verbleibenden Mitgliedsstaaten steht ein Umbruch bevor. Sie müssen sowohl ihre geographisch-politische Orientierung als auch ihr Anforderungsprofil an Mitarbeiter grundlegend ändern. Aufgrund der politischen Schwächung Brüssels gilt es nun, verstärkt das Machtdreieck Berlin-London-Paris sowie die übrigen Hauptstädte der Mitgliedsstaaten zu bespielen. Das wird nicht ohne einen massiven Personalabbau, insbesondere bei Spitzenkräften, am belgischen Standort zu machen sein. Das Polit-Mekka Brüssel steht vor einem Exodus. Das bedeutet zugleich die Abkehr vom Berufstypus des diplomatisch versierten Brüsseler Allrounders. An seine Stelle tritt der national beschlagene Politikprofi, der mit den politischen Besonderheiten der Mitgliedsstaaten besser vertraut ist als mit dem komplexen Spiel der EU-Komitologie.