Die gesellschaftliche Spätmoderne ist eine Epoche realer Widersprüche. Ihre prägenden Merkmale sind eine nie dagewesene Differenzierung in arbeitsteilige Prozesse und soziale Rollen, verkoppelt mit einer Überproduktion von Informationen, Erwartungen und Möglichkeiten eingebettet in die digitale Verschmelzung verschiedenster Lebens- und Arbeitswelten. Aus diesem Komplex entstehen oft ein radikaler, moralisch aufgeladener Individualismus und ein Streben nach Selbstbestimmung, die sich mit der fortschreitenden Globalisierung und Homogenisierung der Lebensstile reiben. Paradoxerweise schlägt sich der dramatische Zuwachs an Wissenschancen nicht in aufklärerischer Zuversicht nieder, sondern – ganz im Gegenteil – in weitverbreiteter Verunsicherung und Desorientierung über Fakten, allgemeinverbindliche Werte und gesellschaftlich-politische Ordnungsstrukturen. Der spätmoderne Mensch ist ein Individualist auf der Suche nach Anschluss und Gemeinschaft, ein von Beschleunigung und Komplexität überlasteter Kreativer, der post fest sein Leben als zielgerichtetes Narrativ ausdeutet, um der selbstauferlegten Forderung nach Sinn und Bedeutung Herr zu werden.1
Wie sind einer solchen Ära, in der die eigenständige Daseinsvorsorge ebenso unmöglich geworden zu sein scheint wie die kognitive Durchdringung unserer Lebenswelten, menschliche Handlungsautonomie und Gestaltungsfähigkeit überhaupt noch möglich? Diese Grundfrage ist keine rein theoretische Frage nach Existenz und Wesen der Freiheit. Sie ist auch eine genuin praktische Frage, entstanden aus der Sorge, der spätmoderne Mensch sei nurmehr allein ein Getriebener anonymer sozialer Kräfte.
Diese Problemstellung hat auch die bedeutenden Vordenker der theoretischen Praxeologie in den Sozial-, Religions- und Kulturwissenschaften umgetrieben – freilich vor allem aus einer analytischen Perspektive. Inspiriert durch Pierre Bourdieus epochale Monographie Entwurf einer Theorie der Praxis von 1972, entwickelten der Althistoriker Paul Veyne, der Philosoph Gilles Deleuze, der Geschichtswissenschaftler Egon Flaig sowie die Soziologen Wolfgang Eßbach und Andreas Reckwitz einen Ansatz, um menschliches Handeln völlig neu zu denken: als geprägt, aber nicht determiniert durch soziale Strukturen; als kontinuierliches Ereignis, das stets aus seinem praktischen Vollzug heraus zu verstehen ist.
Diese theoretische Praxeologie beruht auf einer Reihe methodologischer Prämissen. Zu diesen zählt erstens der Kontextualismus, verstanden als Annahme, wonach deskriptive und evaluative Denksysteme (z.B. historische Erzählungen, politische Strategeme und naturwissenschaftliche Weltbilder, aber auch Sittengesetze, Tabus und Leitideen des gelingenden Lebens) nicht ohne konkrete Handlungs- und Situationsbezüge von Räumlichkeit und Zeitlichkeit analysierbar oder begründbar sind. Der Kontextualismus der Praxeologie ist damit nichts weniger als die Abkehr von einer Theorie der Geschichte, der Politik, der Macht, der Moral, der Religion und des Menschen im doppelten Singular. Zweitens der an Immanuel Kant angelehnte empirische Realismus, demzufolge wir durch Erfahrungen Wissen über die objektive Verfasstheit der Wirklichkeit, ihre Gesetzmäßigkeiten und Sachverhalte erlangen können. Diese Verfasstheit ist gleichsam durch kognitive Vorbedingungen, die wir notwendig in den Erkenntnisgegenstand investieren, mit-konstituiert. So hält die praxeologische Lesart des empirischen Realis-mus an der Rolle des Menschen als interpretierendem Akteur fest, der Eindrücke, Erfahrungen und Emotionen auf Grundlage von kulturell geprägten Erwartungen und Interessen ausdeutet und in Be-ziehung setzt. Erst durch diesen ebenso kreativen wie pragmatischen Akt schafft er eine Welt der Tatsachen, mit der sich dann andere Personen, gleichsam interpretierend, auseinandersetzen müssen.2
Die dritte und für unsere Fragestellung zweifellos wichtigste Prämisse ist jedoch die dispositive Einbettung des Menschen. Das Konzept des Dispositivs ist trotz seines langen ideengeschichtlichen Stammbaums maßgeblich durch den Philosophen Michel Foucault geprägt worden.3 Der Begriff ist, wie viele der Analysekategorien Foucaults, schillernd und kontrovers. Aber es lohnt sich, ihn ausgehend von Deleuzes inspirierter Deutung als „multilineares Ensemble“ zu fassen, dessen zentrale Aspekte eine wechselseitig konstitutive Formation bilden;4 dabei handelt es sich um: Diskurse, Habitus, Praktiken und – wie wir selbst hinzufügen wollen – Institutionen. Im Folgenden wollen wir Dispositive deshalb auch DPHI-Formationen nennen.
Diskurse sind in der konzisen Diktion des Demokratietheoretikers John Dryzek „a shared means of making sense of the world […] grounded in assumptions, judgments, contentions, dispositions, and capabilities”.5 Diese Systeme von gemeinschaftlichen Annahmen, Sprechakten, Argumenten etc. erlauben es den Diskursteilnehmern, „to recognize and process sensory inputs into coherent stories or accounts, which in turn can be shared in intersubjectively meaningful fashion.”6 Diskurse konstituieren damit die Voraussetzungen, aber auch die Grenzen des Sagbaren und der potenziellen Gegenstände sinn- und bedeutungsvoller Debatten. Sie ermöglichen ihren Teilnehmern den intersubjektiven sprachlichen Austausch, und sie legen diese zugleich auf eine begrenzte Menge von kommunikativen Inhalten fest. Folglich sind Diskurse nicht nur sozialkommunikative Phänomene verschiedenster Gesellschaftsfelder – wie z.B. Kunst, Politik, Sport, Wissenschaft oder Wirtschaft –, sondern vor allem Herrschaftsordnungen, die sich z.B. durch Sprechverbote oder Ächtung bestimmter Ausdrücke steuern lassen.
Während Diskurse die Dimension des Sagens, Fragens und Befehlens umfassen und fixieren, betreffen Habitus und Praktiken vor allem die Dimension des Handelns und Herstellens (wiewohl die Grenzen hier nicht so klar gezogen sind, wie es die Kategorien vermuten ließen).7 Ein Habitus besteht aus einer Reihe sozial erlernter Verhaltensregeln, Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata, die bestimmen, wie Menschen ihre Umwelt und andere Personen einschätzen und mit ihnen interagieren. Er funktioniert wie ein sozialer Reflex: „Sobald eine Person P mit einem Habitus H in eine Situation der Art S gerät, legt sie mit großer Wahrscheinlichkeit das Verhalten V an den Tag.“8 Habitus sind, wie Bourdieu in seinen Arbeiten eindrucksvoll belegt, klassenspezifisch. So gehört es z.B. im Gesellschaftsfeld der Kultur zum Habitus des Bildungsbürgertums, ein Faible für Kunst, gehobene Literatur und musische Bildung zu kultivieren. Insofern Habitus eine Regelmäßigkeit von Handlungs-, Wahrnehmungs- und Bewertungsprozessen erzeugen, kommt ihnen eine unentbehrliche Entlastungsfunktion für das Individuum und die Gesellschaft zu. Sie befreien Personen davon, in jeder Einzelsituation alle Handlungsalternativen gewichten zu müssen und schaffen so eine Komplexitätsreduktion der praktischen Welt.
Habitus haben aber nicht nur eine essenzielle Entlastungsfunktion, sondern bringen auch spezifische, für verschiedene soziale Felder kennzeichnende Praktiken hervor. Eine Praktik ist kein Einzelereignis mit festem Anfangs- und Endpunkt, sondern eine kontinuierliche und koordinierte Handlungsfolge, die von mehreren Personen gemeinschaftlich durchgeführt wird. Klassische Beispiele sind neben Güter- und Geldkreisläufen etwa taylorisierte Fertigungsprozesse, landwirtschaftlicher Anbau und Ernten, demokratische Wahlen und Wahlkämpfe, religiöse Riten, aber auch Gerichtsverhandlungen sowie sportliche Wettkämpfe. Wie aus der Auflistung ersichtlich, betreffen Praktiken nicht nur das Feld zwischen-menschlichen Handelns, sondern auch die Interaktion zwischen Mensch und unbelebter Umwelt, genauer, die Herstellung von Artefakten (Werkzeuge, Konsumgüter, Bauwerke, Kunstobjekte etc.). Diese Objekte, die durch die zielgerichtete „Vermischung“ von Arbeitskraft und Natur entstehen, erschöpfen sich nicht in der Funktionalität und Lebenserleichterung des Mängelwesens homo sapiens.9 Sie stellen, insoweit sie die materiellen Konkretionen menschlichen Gestaltungswillens sind, ein Mensch-Welt-Verhältnis her und überwinden so den Antagonismus zwischen Person und Umwelt.10
Die zahlreichen hoch anspruchsvollen Handlungsfolgen mit tausenden und bisweilen Millionen von Teilnehmern, die zusammen die Praktiken eines gesellschaftlichen Feldes konstituieren, könnten niemals aufrechterhalten und reproduziert werden, wenn ihre Teilnehmer nicht dazu disponiert wären. Nur durch die Einverleibung der sozialen Welt mittels der Internalisierung unbewusster Verhaltensmuster können die Gesellschaft, wie wir sie kennen, und ihre verschiedenen Felder existieren. Umgekehrt ist die kontinuierliche Iteration von Praktiken jedoch ebenso eine Bedingung der Formierung von Habitus. Denn diese werden in aller Regel nicht als abstrakte Lehrinhalte vermittelt, sondern durch das Hineinwachsen in konkrete Positionen und hierarchische Strukturen der sozialen Welt erworben.
Die finale Facette dispositiver Einbettung wird gerade von der französischen und französisch inspirierten Kulturwissenschaft gern ausgeblendet oder nachgeordnet: die institutionelle Ordnung des Gemeinwesens.11 Dabei sind menschliche Verhaltensprägung und -steuerung keineswegs allein das Resultat impliziter, habituell internalisierter Verhaltensgrundsätze, sondern auch sehr expliziter, z.B. von Amtsträgern oder Gremien erlassener, Vorgaben. Während es sich bei Habitus und Praxen gewisser-maßen um deskriptive Regeln handelt, die die routinierter Gleichförmigkeit menschlichen Verhaltens abbilden, sind institutionelle Normen präskriptive Regeln, die eine Sanktionsdrohung enthalten.
Hierzu zählen Gesetze, Verordnungen, Richtlinien, Industrienormen, wirtschaftliche Compliance-Vor-gaben, Geschäftsordnungen und so weiter. Sie alle bilden ein streckenweise hochkomplexes System einander ergänzender, aber auch miteinander konkurrierender Institutionen, dessen Elemente kein Mensch in toto internalisieren kann – gerade, weil es so komplex ist. Dieses System gleicht einem Schachbrett, dessen Aufbau und Spielregeln zwar entscheidend für den Erfolg unseres Handelns sind, über deren Intension und Extension wir uns jedoch ständig rückversichern müssen und die sich durch Reformen, Interpretationsstreitigkeiten oder juristischen Interventionen in stetem Flux befinden.
Institutionen lassen sich aber nicht nur aufgrund ihrer Komplexität auf Habitus und Praktiken reduzieren. Sie haben auch ein Eigenleben, das sie als soziale Akteure eigenen Ranges aufscheinen lässt.12 Wenn wir sagen, „der Bundestag hat entschieden, dass…“, „das Verfassungsgericht verbietet, dass…“ oder „Siemens legt die Unternehmensstrategie fest auf…“, dann sprechen wir diesen sozialen Entitäten eine Handlungsfähigkeit und eine Essenz zu, die sich nicht in der Summe ihrer aktualen Mitglieder er-schöpfen. Institution bilden in den Worten des Soziologen Heinrich Popitz‘ arbeitsteilige „Positionsgefüge“, die enorme Synergien individueller Fähigkeiten freisetzen können, weil sie durch Zuweisung von Funktionen und Aufstellung von Hierarchien und Befehlsketten ein hohes Maß an Koordinierung, aber auch Spezialisierung ermöglichen.13 Zudem haben sie eine geschichtliche Dauer, die die Lebensspanne von Menschen um ein Unzähliges übertrifft, und sie haben einen eigene Sinnhaftigkeit und Ethos, der unweigerlich von jenen besitzt ergreift, die in sie eintreten. Diese Elemente sind emergent, d.h. sie entstehen als neue Eigenschaftsklassen aus den zahllosen, geschichtlich vorgeprägten Interaktions-mustern der beteiligten Personen. Diese agieren freilich unter Voraussetzungen von Diskursen, Habitus und Praktiken – so schließt sich der Kreis zu einer Formation gleichursprünglicher Existenzbedingungen zusammen.
Gemeinsam bilden Diskurse, Habitus, Praktiken und Institutionen die zentralen Elemente des Dispositivs, welches wie ein „Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann“,14 alle Aspekte menschlicher Existenz und Interaktion umspannt. In diesem Netz stehen die Menschen einander in einem hierarchischen Verhältnis von Status- und Ressourcenasymmetrien gegenüber, welches – wie Foucault nicht müde wird, zu betonen – zu kontinuierlichen Friktionen, Positionsverschiebungen und Kämpfen führt. Die Metapher des Netzes evoziert, ob intendiert oder nicht, eine Assoziation des Ge-fangen-Seins, der Unentrinnbarkeit. Und tatsächlich hat Foucault gerade in seinem frühen und mittleren Werk immer wieder unterstrichen, wie sehr Dispositive das Tun und Sagen des Menschen steuern und vorherbestimmen; freilich nicht, ohne diese Position in seinem Spätwerk zumindest wieder partiell zu revidieren.
Bis zu diesem Punkt könnte man meinen, die theoretische Praxeologie wäre eine Theorie des sozialen Determinismus, welche Personen zu bloßen Automaten herabstuft, die von DPHI-Formationen programmiert werden. Aber diese Einschätzung ist vorschnell. Individuelle und gemeinschaftliche Handlungen und Sprechakte werden maßgeblich durch Dispositive geprägt. Aber diese sind weder lückenlos noch reibungslos; diese Einsicht ist die zweite große Säule der theoretischen Praxeologie.
Erstens hält keine DPHI-Formation eine Blaupause für alle möglichen Handlungs- und Sprechsituationen bereit. Sie weist Leerstellen auf, die unvorhersehbar durch neue praktische Herausforderungen, sozioökonomische Krisen, technologische Innovationen, aber auch durch interne Konflikte zwischen Diskurs und Praxis aufgedeckt werden. Wir können tausende oder hunderttausende Male denselben Verhaltens- und Sprachmustern folgen, ohne je über das Worum-Willen unseres Tuns reflektieren zu müssen. Doch mit einem Mal stehen wir orientierungslos da – und müssen Lösungen finden. Aktuelle Beispiele für solche Herausforderungen sind: die digitale Revolution, die sowohl alle Industriezweige als auch alle Ebenen unseres Privatlebens erfasst und damit etablierte Wertschöpfungsmodelle und Kommunikationsmuster auf den Kopf stellt; die einflussreiche Sprachkritik des Feminismus im Verbund mit der Intersektionalitätstheorie, die verkappte (und bisweilen auch nur vermeintliche) Diskriminationsmuster in alltagssprachlichen Konventionen offengelegt und damit einen bis heute nicht abgeschlossenen Transformationsprozess offizieller und inoffizieller Sprachspiele losgetreten hat; und nicht zuletzt die aktuelle Nachhaltigkeits- und Klimadebatte, die unsere festen Konsum- und Lebensgewohnheiten sowie Energieversorgungskonzepte unter ethischen Gesichtspunkten radikal infragestellt.
Zweitens funktionieren DPHI-Formationen untereinander nicht wie Zahnräder in einem gut geölten Getriebe, sondern konkurrieren um gesellschaftliche Dominanz und Deutungshoheit.15 Unterschiedliche Gesellschaftsfelder wie Politik und Wirtschaft zeichnen sich zwar durch völlig distinkte Wertesysteme, Rollen, Regeln und Begrifflichkeiten aus – aber sie erheben gleichermaßen Anspruch auf normative Autorität über unser Sagen und Tun und über das Erlassen neuer Regeln. Entsprechend kollidiert z.B. das dominante ethische Paradigma der Demokratie „Fördere das Gemeinwohl!“ im Schnittmengenfeld der Wirtschaftspolitik mit dem Paradigma der Marktökonomie „Maximiere den Profit!“. Dies führt immer zu Zielkonflikten zwischen Politik und Wirtschaft, die keiner einfachen Lösung mehr zugänglich sind: „Wie gewichtet man Arbeitsplätze gegen regulatorische Autonomie? Wie ökologische Nachhaltigkeit gegen Unternehmens- und Verbraucherinteressen? Wie äußere und innere Sicherheit gegen Wirtschaftswachstum?“16 Solche irreduziblen Dilemmata entstehen ebenso regelmäßig im Spannungsfeld von Kunst und Religion, wo sich – gerade in der Satire – der Primat ästhetischer Freiheit mit dem Respekt vor dem Göttlichen reibt.17 Durch diese Konflikte müssen Individuen und Kollektive eigenständig manövrieren; es existiert kein übergeordnetes Prinzip, auf das sie sich beziehen könnten.
Durch diese beiden Faktoren entstehen immer wieder Situationen der Kontingenz. An die Stelle der Notwendigkeit dispositiver Verhaltenssteuerung tritt ein Raum unterschiedlichster Handlungsmöglichkeiten, in dem die Philosophen und Gesellschaftstheoretiker der Neuzeit nicht nur die Quelle der Autonomie und der Moral, sondern auch den Ort des freien Spiels ausgemacht haben.18 Kontingenz und Unsicherheit bedeuten für uns Menschen nicht nur Belastung und kognitive Überforderung, sondern auch Spaß und Nervenkitzel. Dies sind die Schlüsselmomente, in denen Menschen durch kreative Akte zwischen DPHI-Formationen navigieren, eigene Prioritätssetzungen vornehmen können und durch die Reinterpretation der sozialen Welt neue Fakten schaffen. Die momenthafte Unordnung oder Lückenhaftigkeit im foucault‘schen „Netz“ wird so zur Chance für eine Neuordnung.
Zugleich entscheidet sich hier aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive die Frage nach dem Fortbestand oder Untergang einzelner DPHI-Formationen. Denn, wenn ihr Potenzial schwindet, unser alltägliches Sagen und Tun durch praktische Generalisierungen zu erleichtern, schwindet auch ihre Bindungswirkung und Verbindlichkeit. Für die dichte Beschreibung menschlichen Verhaltens – das zentrale Erkenntnisinteresse der theoretischen Praxeologie – impliziert dieser Sachverhalt einen starken Fokus auf Probabilistik, die prognostische Quantifizierung wahrscheinlicher und unwahrscheinlicher Ereignisse. Die zentrale methodologische Herausforderung besteht folglich darin, zu erkennen, wie stark oder schwach die determinierende Funktion von DPHI-Formationen ist und wie groß oder klein der Risikofaktor der Krise. Soziale Stabilität und Wandel ergeben sich, so die Konklusion, aus dem Wechselspiel dieser Kräfte.
Für die theoretische Praxeologie sind damit Programmatik und Zielsetzung definiert, alles Weitere ist konkrete Forschung. Aber wie steht es um die drängende praktische Herausforderung unser anthropologischen Situiertheit zwischen dispositiver Ordnung und plötzlichen Krisen – wie kann sich der Mensch in diesem Zwiespalt behaupten? Denn wenn sich menschliches Tun und Sagen im Spannungsfeld von dispositiver Regelmäßigkeit und Steuerung auf der einen Seite und disruptiver Kontingenz und Störung auf der anderen Seite ereignet, erscheint ein Risiko manifest: Der Mensch ist zwar kein Automat, der sozial konditionierte Routinen abspult – aber droht zum Spielball der um Vorherrschaft ringenden Gesellschaftskräfte von Ordnung und Chaos, von Notwendigkeit und Kontingenz zu werden. Die Handhabbarmachung gesellschaftlich-politischer Komplexität würde damit zum übermächtigen Problem. Es ist keinesfalls erstaunlich, dass sich ebendiese Einschätzung exakt mit der oben formulierten Stimmungsbeschreibung der Spätmoderne deckt.
Wenn man sich diesem Themenfeld mit einem praktischen Erkenntnisinteresse zuwendet, betritt man Neuland. Dies ist, so unsere Kernthese, die Aufgabe einer neuen, angewandten Disziplin: der politischen Praxeologie. Diese angewandte Variante der Praxeologie soll erstens für den Menschen Orientierung und Übersicht schaffen, indem sie die wirkmächtigen Sozialstrukturen kognitiv erschließt und dem Individuum ein reflektiertes Verhältnis zu seiner gesellschaftlichen Umwelt, ihren dispositiven Kontinuitäten und Diskontinuitäten ermöglicht. Sie kann dies leisten, indem sie – der methodologischen Vorarbeit der wissenschaftlichen Praxeologie verpflichtet – die Konvergenz und Divergenz von Diskurs und Praxis in den Blick fasst und seriell analysiert. Es geht, kurz gesagt, um Vergleich und Beschreibung dessen, „was die Leute tun [und] was sie sagen“ – und um die Kontextualisierung der Inszenierung und Reproduktion von Ritualen, Institutionen und Symbolen sowie von Sprachspielen und Geisteshaltungen.19 Denn diese zeigen die Stabilität von DPHI-Formationen an, welchen von ihren Teilnehmern als unhinterfragter Teil der Lebenswelt anerkannt werden. Die politische Praxeologie hat einen wachsamen Blick für die Alltäglichkeit und die Geräuschlosigkeit der sozialen Welt. Aber sie achtet ebenso aufmerksam auf subtile Modifikationen, Störungen und Unterbrechungen. Denn diese markieren oftmals eine dispositive Krise, bei der sich menschliche Kreativität und Autonomiestreben schlag-artig in Innovation, aber auch in Chaos und Zerstörung entladen können.
Zweitens – und dieser zentrale Punkt baut auf dem ersten auf – ist politische Praxeologie die Befähigung des Menschen zum rational-selbstbestimmten Handeln. Dieses kann und darf nicht als vollständige Risikoausschaltung oder gänzlich autonome Planung von Zielerreichung verstanden werden. Solche Ziele sind für ein dispositiv situiertes Individuum unrealistisch. Politische Praxeologie als Handlungsmodell ist nur Kontingenzdämpfung; sie ist das Ausnutzen von Handlungschancen in der durch Orientierungsleistung erschlossenen Übersicht der DPHI-Formationen, und sie ist das Wappnen gegen unvermeidliche Krisen, Störungen und Umbrüche. Der Schlüsselbegriff für diesen Ansatz ist: Macht.
Vor allem in Deutschland hat Macht einen denkbar schlechten Leumund. Sie gilt vielen als moralisches Übel, als inhärent unterdrückerisch, als zersetzende Kraft, die sich durch soziale Bindungen frisst.20 Zu Unrecht. Für sich betrachtet ist Macht ethisch neutral, ihre Valenz ergibt sich ausschließlich kontextuell, d.h. aus der Frage, wer sie wie gegenüber wem einsetzt. Wir wollen deshalb moralisierende Betrachtungen beiseitelassen und uns auf die Bedeutung der Macht für die politische Praxeologie konzentrieren. Macht lässt sich mit Aristoteles und Max definitorisch auf den Punkt bringen – und zwar als doppelte Potenzialität: Sie ist die Möglichkeit, eigene Ziele gegen mögliche Hindernisse – seien dies nun andere Individuen, dominante Praktiken oder plötzliche Störungen von DPHI-Formationen, aber auch physische Barrieren – durchzusetzen.21 Macht impliziert einen potenziellen Widerstand, der potenziell überwunden wird. Das Ausmaß der Macht hängt von der Wahrscheinlichkeit ab, mit der ein Akteur den Widerstand anderer überwinden kann. Dabei ist erstens unerheblich, ob sich der Wider-stand jemals manifestiert oder ob der Akteur jemals von seinen Fähigkeiten Gebrauch macht. Zweitens ist Macht keine Garantie zur Durchsetzung des Willens, sondern nur eine Chance. Damit ist effektiver und effizienter Machtgebrauch angewandte Probabilistik im doppelten Sinne: Er muss erstens prognostizieren, mit welcher Wahrscheinlichkeit Widerstände gegen die eigenen Interessen auftreten wer-den; und er muss zweitens prognostizieren, mit welcher Wahrscheinlichkeit diese Widerstände mit den vorhandenen Mitteln überwunden werden können; je besser die Prognose desto erfolgreicher der Machtgebrauch (in Relation zu den vorliegenden Machtmitteln).
Politische Praxeologie ist die Lehre vom erfolgreichen Machtgebrauch. Sie legt die Grundlagen dafür, um sich im Spannungsfeld von dispositiver Regelmäßigkeit und disruptiver Kontingenz zu behaupten.
Die Beherrschung von Macht steht im Fokus unseres Buches Logiken der Macht: Politik und wie man sie beherrscht.22 Die Fähigkeit, Macht zu gewinnen, zu konsolidieren und zielgerichtet einzusetzen beruht, so unsere These, auf drei Faktoren: Machtkompetenz, Machtwissen und Machtinstrumente.
Machtkompetenz ist die durch mimetische Nachahmung profilierter Vorbilder sowie durch intensive und extensive Praxiserfahrungen und Einverleibung bewährter Handlungsschemata erworbene instinktive Vertrautheit mit Machtausübung in der gesellschaftlich-politischen Sphäre. Sie ist, der klassisch-aristotelischen Taxonomie folgend, die téchne der Macht, welche nicht durch Buchlektüre oder Frontalunterricht erlernt, sondern nur durch das Hineingeworfen-Sein in die Praxis Machtausübung. Diese instinktive Vertraut mit Macht ist deshalb so entscheidend, weil unsere soziale Welt, in der der Einsatz von Macht für autonomes Handeln zentral ist, nicht nur extrem unübersichtlich, sondern auch hochbeschleunigt ist. Ohne ein erfahrungsgesättigtes ‚Bauchgefühl‘ dafür, wann sich Unordungen in oder Lücken zwischen DPHI-Formationen auftun und plötzlich neue Handlungsräume entstehen, können diese oftmals nicht genutzt werden, z.B. weil sie sich bereits wieder geschlossen haben oder von einem anderen Akteur besetzt wurden. Ein solcher Lernprozess ist lang und mühsam. Er setzt idealiter ein hochselektives, elitäres Lernumfeld voraus; ist er erfolgreich, so steht an seinem Endpunkt der Routinier der Macht. Dieser Routinier muss, wenn er mit Herausforderungen gesellschaftlich-politischer Einflussnahme konfrontiert ist, nicht ausgiebig reflektieren oder Aktenstudium betreiben, um sachgerecht und effektiv zu entscheiden. Die Machtausübung ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen.
Machtwissen ist das intellektuelle Äquivalent zur Machtkompetenz – die epistémé der Macht. Es um-fasst erstens das inhaltliche Detailwissen über die Diskurse, Praktiken, Habitus und Institutionen, die unser gemeinschaftliches Handelns prägen; zweitens ein Verständnis für die Legitimierung von Macht durch glaubwürdige und emotional mobilisierende Narrative, wie etwa die französische „grande nation“ oder das US-amerikanische „land of the free“; und drittens die strategische Expertise. Letztere ist das Kernprinzip des Machtwissens. Erfolgreiche Strategiebildung und deren Umsetzung sind nichts weniger als die situationsübergreifende Ereignishaft-Machung eines Plans, mit Akteure den Handlungsraum auf dem idealen Kausalpfad der Kosten-Nutzen-Effizienz zwischen Startpunkt und Ziel durchmisst. Dies setzt nicht nur eine exzellente Vertrautheit mit den entscheidungsrelevanten DPHI-Formationen voraus, sondern auch eine erfahrungsgesättigte Einschätzung eigener Machtressourcen.
Die Machtinstrumente bilden die objektive Seite der Macht, d.h. die Werkzeuge der Einflussnahme, welche eine Person oder Organisation zur Disposition haben kann, die aber nicht intrinsisch mit ihr verknüpft sind. Das Spektrum potenzieller Machtwerkzeuge ist grenzenlos – und die Frage, welches Instrument einem Akteur Macht über einen anderen verleiht, untrennbar mit den soziokulturellen so-wie ökonomischen Kontexten konkreter Gemeinwesen verknüpft. Grundsätzlich können wir bei der Vermessung dieses Spektrums zwischen Artefakten auf der einen Seite und sozialen Organisationen auf der anderen Seite unterscheiden. Zu ersteren zählen neben Instrumenten der Kommunikation und Überwachung, deren Unverzichtbarkeit Foucault prominent hervorgehoben hat,23 natürlich auch Technologie, die die Grundlage der von Heinrich Popitz so treffend auf den Punkt gebrachten „datensetzenden Macht“ bilden. Zu letzteren gehören neben den klassischen Machtinstitutionen Polizei und Militär unter anderem zivilgesellschaftliche Vereinigungen und Parteien, aber auch informelle Netzwerke, die durch Rekrutierung, Spezialisierung und Konzertierung von Handlungen als hochwirksame Instrumente der Interessendurchsetzung fungieren können. Sie bilden das „Sozialkapital“ von Personen und Personengruppen, insofern sie die Wechselbeziehungen der Informationstransmission und die Normen generalisierter Reziprozität verkörpern.24
Die Beherrschung dieser drei komplementären Machtvektoren und damit die Selbstbehauptung im Spannungsfeld von dispositiver Regelmäßigkeit und disruptiver Kontingenz stellt alle Akteure, und zwar sowohl Individuen als auch Organisationen, seit jeher vor immense mentale und körperliche Herausforderungen. Machterwerb, Machterhalt, Machtausübung können extrem anstrengend und schwierig sowie emotional belastend sein. Die politische Praxeologie fußt daher auch nicht auf der These, jeder Mensch müsse zum Machtexperten werden. Dies wäre im Lichte der anspruchsvollen Voraussetzungen ein utopische Forderung. Dennoch sollte klar sein, dass die gegenwärtige Tabuisierung und Dämonisierung von Macht ein hohes Risiko bergen: Dort, wo die meisten Menschen vor der Macht zurückschrecken, wächst nicht nur die allgemeine Ohnmacht vor der Komplexitätsexplosion der Spät-moderne. Vor allem wächst der Einfluss jener wenigen, die keine derartigen Berührungsängste haben und ihrem Machtstreben ungezügelt nachgehen können. Die Folge ist eine klandestine Elitenbildung, die keinem echten Wettbewerb unterworfen ist und auch kein öffentliches Korrektiv mehr kennt. Der Schaden für die Gesellschaft liegt auf der Hand.
Deshalb läuft die politische Praxeologie letztendlich auf sehr konkreten Appell hinaus: Macht nicht als Bedrohung oder moralisches Übel zu begreifen, das minimiert oder am besten gleich aus der Welt getilgt werden sollte – sondern als soziale Ressource im Streben nach Handlungsautonomie. Wenn dieser Schritt getan ist, ist gleichsam der Weg gebahnt für eine echte und produktive Auseinandersetzung über gesellschaftliche Legitimation, Einsatz und Verteilung von Macht. Macht und ihre Ausgestaltung sind nicht naturgesetzlich gegeben, sondern das Ergebnis menschlicher Kreativität. Wir müssen nur den Mut haben, uns ihrer zu bedienen.
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1 Vgl. Dewey (1927). Siehe auch Bauman (1995).
2 Klassisch hierzu Weber (1904).
3 Siehe Wimmer (2012), Deleuze (1991).
4 Deleuze (1991): S. 153.
5 Dryzek (2000): S. 184.
6 Dryzek (2010): S. 31.
7 Man denke etwa an performative Sprechakte, mit denen weder wahrheitsfähige Propositionen ausgedrückt werden noch Fragen gestellt oder Befehle erteilt, sondern konkrete Handlungen ausgeführt werden (z.B. „Sie sind hiermit entlassen!“); vgl. Austin (1962).
8 Meier & Blum (2018): S. 102.
9 Vgl. Locke ([1689] 1977); Gehlen ([1940] 2009)
10 Siehe Eßbach (2014); diese Position geht auf Karl Marx zurück, siehe hierzu Quante (2009).
11 Gerade Foucault tat sich traditionell schwer damit, die Eigengesetzlichkeit des institutionellen Systems anzuerkennen – und das obwohl er dem Thema pro forma sogar eine Vorlesung gewidmet hat; siehe Foucault (1971).
12 Siehe etwa Ruben (1985).
13 Popitz (1992): S. 255.
14 Foucault (1978): S. 119.
15 Vgl. Poggi (2001).
16 Meier & Blum (2020, im Erscheinen): S. 2.
17 Siehe Meier & Blum (2019).
18 Siehe Bolz (2014). Freilich verstehen wir Kontingenz hier nicht im strengen Sinne der analytischen Philosophie als Gegenbegriff zur nomologischen und logischen Notwendigkeit, sondern als Überbegriff für jene Momente praktischer Unbestimmtheit, wo plötzlich „alles offen ist“ und sich in den Lücken zwischen den DPHI-Formatio-nen der Raum der Möglichkeiten öffnet.
19 Veyne ([1978] 1992): S. 28.
20 Siehe etwa Burckhardt (2000).
21 Siehe Aristoteles (1994) und Weber ([1921] 1972).
22 Siehe Meier & Blum (2018).
23 Vgl. Foucault (1991).
24 Siehe Putnam (1993).