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Das neue Wahlrecht: Zwei Seiten einer kontroversen Reform

Das deutsche personalisierte Verhältniswahlrecht ist kompliziert. Aber das muss es sein. Ein Ausgleich zwischen dem Anspruch, die regionale Vertretung des Bürgers zu ermöglichen und gleichzeitig die Wählerstimmen präzise in Mandate des Bundestages umzurechnen, ist immer mit Kompromissen verbunden.

Das deutsche personalisierte Verhältniswahlrecht ist kompliziert. Aber das muss es sein. Ein Ausgleich zwischen dem Anspruch, die regionale Vertretung des Bürgers zu ermöglichen und gleichzeitig die Wählerstimmen präzise in Mandate des Bundestages umzurechnen, ist immer mit Kompromissen verbunden.

Das ist nicht zuletzt daran zu erkennen, dass es am Bundestagswahlrecht eine Reihe von Anpassungen gab, die das Bundesverfassungsgericht veranlasste: 2008 gab Karlsruhe dem Gesetzgeber drei Jahre Zeit, das Wahlrecht anzupassen, um die verspätete Anpassung 2012 wieder zu kassieren. 2013 trat dann eine Neuregelung der Sitzverteilung in Kraft, 2020 eine weitere. Urteile und Gesetzesänderungen blähten das Parlament immer weiter auf. Während der 17. Bundestag 622 Mitglieder zählte und der 18. 631, waren es im 19. Bundestag schon 709. Und in der laufenden Legislaturperiode sind es sogar 736. Zu groß, um effektiv und effizient arbeiten zu können und zu teuer für den Steuerzahler, lauten die nachvollziehbaren Vorwürfe. Wiederkehrender Knackpunkt: Überhangmandate und, seit 2013, Ausgleichsmandate. Naheliegend erscheint da die Antwort der Ampel, diese Überhangmandate kurzerhand abzuschaffen.

Unsere Kollegen Malte Heimbächer und Tommaso Putignano haben die Reform genauer unter die Lupe genommen und finden sich in unterschiedlichen Ecken des Rings wieder. Ihre Gedanken haben sie hier aufgeschrieben.

Pro: Mehr Verhältnis, weniger Personalisierung – Warum das neue Wahlrecht den Reformbedarf erfüllt
von Malte Heimbächer

Der bisherige Kompromiss des Wahlrechts bestand in der aufwendigen Verrechnung von Überhang- und Ausgleichsmandaten. Das Problem dabei: der Bundestag bläht sich zum größten aller demokratischen Parlamente auf. Nicht überraschend also, dass seit Jahren Bürgerinnen und Bürger fordern den Bundestag zu verkleinern, zuletzt sogar 78 Prozent der Bevölkerung. Hierfür muss ein neuer Kompromiss aus regionaler Repräsentanz und Präzision geschlossen werden – was die Ampel-Regierung in ihrem Vorschlag tut.

Der intuitive Weg wäre es, die Anzahl der Wahlkreise zu verringern. „Aus 3 mach 2“ wie der Chef der Freien Wähler Hubert Aiwanger lautstark fordert. Doch allein der administrative Aufwand und die – wie ein Damoklesschwert im Raum hängenden – Vorwürfe des Gerrymanderings dürfte den Ampel-Verhandlern auf den Magen geschlagen haben. Eine Verringerung der Wahlkreise hätte den Prozess in die Länge gezogen – im Zweifel auch über das Ende dieser Legislatur hinaus.

Stattdessen also ein neuer Kompromiss: mehr Verhältnis, weniger Personalisierung. Dazu weg mit den komplizierten Zusatzmandaten und ein stärkerer Fokus auf die Zweitstimme – die bereits seit Jahren als „die entscheidende Stimme“ beworben wird. Der Preis hierfür wird sein, dass nicht alle Wahlkreise ein Direktmandat stellen. Hier kommt die Ampel ihren Kritikern entgegen. Die Grundzahl der Mandate wird von 598 auf 630 erhöht, damit der Fall des fehlenden Direktmandats deutlich seltener auftritt. Was erst einmal wie eine Erhöhung klingt, entspricht 106 Mandaten weniger als den aktuellen 736 Abgeordneten.

Die Frage ist also eher, ob man die CSU drängen darf, endlich reinen Tisch zu machen und sich mit der CDU zu vereinen. Guter Stil ist das nicht, aber gleichzeitig auch nicht so bedenklich, wie gerne herbeigeredet.

Die zentralen Streitpunkte liegen woanders. CSU und Linke sehen in der gestrichenen Grundmandatsklausel ihre Existenz auf Bundesebene in Gefahr. Allerdings ist die Entscheidung, die Hürde von drei Direktmandaten abzuschaffen, richtig. Wenn nicht jeder gewonnene Wahlkreis ein Mandat im Bundestag erhält, ist ein Einzug über eine Mindestanzahl Direktmandate nicht kohärent mit dem restlichen Wahlrecht. Während die Linke an der Fünf-Prozent-Hürde bundesweit scheitern könnte und man ihr daher den Anspruch auf einen Einzug recht einfach absprechen kann, ist die Situation der nur regional antretenden CSU verzwickter. Die Ampel-Verhandler haben sich entschieden ein Wahlrecht einzuführen, das keinen Platz für regional antretende Parteien – außer Vertretungen von Minderheiten – einräumt. Doch ist die Wahl der CSU, regional alleine anzutreten, aber im Bund eine gemeinsame Fraktion mit der CDU zu bilden eine freiwillige. Die Frage ist also eher, ob man die CSU drängen darf, endlich reinen Tisch zu machen und sich mit der CDU zu vereinen. Guter Stil ist das nicht, aber gleichzeitig auch nicht so bedenklich, wie gerne herbeigeredet.

Weiterhin beliebt – besonders bei den Feuilletonisten des Landes – ist das Argument, politische Hochburgen würden durch die Reform gestärkt und die umkämpften Wahlkreise würden nicht honoriert. Während dieser Rebellengeist sich zwar schön liest, verfehlt er doch den Punkt. Sollten nicht Regionen, die in besonders großer Zahl eine Partei wählen auch von jemandem aus ihrer Region vertreten werden? Die meisten der Fälle, in denen ein knapper Gewinner mit 20 Prozent als Sieger ins Parlament einzieht, entsteht in diversen Wahlkreisen. Die wenigen Fälle, in denen ein Kandidat oder eine Kandidatin ein Mandat verlieren, obwohl sie den Wahlkreis rebellisch erkämpft haben, sind ein kleiner Preis für eine verhältnismäßige Sitzverteilung. Wahlkreise, die nach der Wahl ohne Direktmandat dastehen, müssen durch die gewählten Abgeordneten der Parteien, die über die Liste eingezogen sind, mitabgedeckt werden. Es gibt bereits von jeder Fraktion im Bundestag zugewiesene Zuständigkeiten, für Wahlkreise, die nicht von der Partei gewonnen wurden. Es ist also keine besondere Herausforderung, Ansprechpartner aus der Region zu benennen, die vor Ort die Partei repräsentieren, auch wenn sie kein Direktmandat gewonnen haben.

Der Wahlrechtsreform der Ampel gelingt es, Mandate gleichmäßig über alle politischen Lager hinweg zu streichen. Das hat seinen Preis, doch der ist verglichen mit den Mängeln des aktuellen Systems und den Ansätzen zur Reform der letzten Jahre gering. Das neue Wahlrecht ist also wieder ein Wahlrecht der Kompromisse.

Contra: Warum das neue Wahlrecht ungesunde Distanz zwischen Wählerwille und Parlament schafft
von Tommaso Putignano

Der Reformdruck beim Bundestagswahlrecht ist zweifelsohne groß. Dass aber die letzte Woche im Bundestag verabschiedete Reform insbesondere die CSU erzürnt, liegt nicht nur an ihren elf Überhangmandaten.

So könnte die CSU, die 2021 45 von 46 möglichen Direktmandaten errang, bei einem geringfügig schlechteren Zweitstimmenergebnis nicht nur ihre elf Überhangmandate verlieren, sondern alle 45. Denn die Sitzverteilung orientiert sich nunmehr ausschließlich am Zweitstimmenergebnis, inklusive Fünf-Prozent-Hürde. Erreicht die CSU bundesweit nicht mehr wie 2021 5,2 % der Zweitstimmen, sondern etwa 4,9 %, ist sie im 21. Bundestag nicht mehr vertreten. Dass sie in Bayern möglicherweise klar stärkste Kraft wird und alle oder fast alle Direktmandate erringt, ist dem neuen Bundeswahlgesetz egal. Wählerwille und Sitzverteilung geraten hier in einen Konflikt, der deutlich über das hinausgeht, was Überhangmandate zuletzt anzurichten vermochten.

Der Sonderfall Regionalvolkspartei CSU ist aber noch nicht alles. Das Gesetz der Ampel schwächt die Bedeutung des Mehrheitswahlrechts so weit, dass einige Wahlkreise am Ende ganz ohne Direktmandat dastehen könnten. Denn aus dem Prinzip der Zweitstimmendeckung folgt auch: Nicht mehr jeder Wahlkreissieger erhält automatisch ein Mandat. Wer zukünftig seine Erststimme abgibt, kann sich also nicht mehr sicher sein, ob er damit überhaupt die Chance hat, einen der Wahlvorschläge nach Berlin zu schicken. Dass die Verhältniswahl den Ausschlag für die Sitzverteilung im Bundestag geben soll, ist nicht verkehrt und betonte auch das Bundesverfassungsgericht 2012 in seinem Urteil zur vorangegangenen schwarz-gelben Reform.

Ausgerechnet die umkämpftesten Wahlkreise sind die ersten, die in die Röhre gucken. Die Reform entfernt die Wählerinnen und Wähler damit noch ein Stück weiter vom Parlament.

Die Radikalkur der Ampel allerdings geht auch hier einen Schritt zu weit. Denn ausgerechnet die umkämpftesten Wahlkreise sind die ersten, die in die Röhre gucken. Außerdem gewinnt die Partei für Kandidaten und Abgeordnete gegenüber dem Elektorat noch weiter an Bedeutung, wenn Mandate nur noch in Hochburgen wirklich sicher sind, in denen die Parteizugehörigkeit der Kandidaten entscheidet und weniger ihr programmatisches Angebot. Die Reform entfernt die Wählerinnen und Wähler damit noch ein Stück weiter vom Parlament.

Wie kann die notwendige Reform des Bundestagswahlrechts aber aussehen? Eine Option liegt auf der Hand: Man hält am bisherigen Verfahren der Sitzverteilung fest, reduziert aber die Zahl der Wahlkreise. Getreu dem Motto: Lieber ein großer Wahlkreis als einer ganz ohne Abgeordneten. Auch eine geringe Zahl von Überhangmandaten bleibt laut Bundesverfassungsgericht vertretbar. Entsprechende Vorschläge lagen bereits auf dem Tisch. Ein für manche Parteien vielleicht schmerzhafter, aber insgesamt sicher verfassungskonformer und ausgewogener Weg, am Prinzip der personalisierten Verhältniswahl festzuhalten.

Das Argument, die Parteien würden den Neuzuschnitt der Wahlkreise für sich nutzen wollen, ist völlig nachvollziehbar. Das Bundeswahlgesetz sieht für die periodische Einteilung aber ohnehin eine unabhängige Kommission vor. Forderungen nach solchen Kommissionen sind vielleicht nicht populär, sie machen aber unausgewogene Entscheidungen unwahrscheinlicher. Und in einer Sache ist die Ampel-Reform zugegebenermaßen schon auf dem richtigen Weg: Listenmandate für eine Partei, die keine fünf Prozent der Zweitstimmen erreicht, sollten zukünftig keinen Platz mehr im Wahlrecht haben.