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Macht in Zeiten der Krise: Verlockung und Verhängnis

Auf den ersten Blick bilden die politischen Aktionsmuster im Kontext der Coronapandemie eine außergewöhnlich erfolgreiche diskursive Machtpraktik.

Zwei Jahre seit dem ersten positiven Coronafall in Deutschland – bei einem Automobilzulieferer in Gauting nahe München – ist das Virus längst fester Bestandteil des politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Denkens und Handelns. Welche Maske schützt besser? Wie zuverlässig sind die Zahlen des Robert-Koch-Instituts? Bringt eine Impflicht die Wende? Kaum ein Smalltalk kommt ohne humanbiologische und medizinethische Spezialthemen aus, die zuvor einem kleinen Expertenkreis vorbehalten waren. Aber nicht nur das: Nach Monaten, in denen ungewisse Beklemmung, kaum gezügelte Panik und vorsichtiger Optimismus unablässig einander abwechselten, hat sich sukzessive die Alltäglichkeit des Virus eingestellt. Alltäglich und offensichtlich ist nunmehr auch der Machtanspruch und die Machtdurchsetzungsfähigkeit, die vor allem der Bundesregierung im Zuge der Pandemiebekämpfung zufallen. Gleichsam als hätte das Regierungssystem seine Samthandschuhe ausgezogen. Wir erkennen auch wieder in Deutschland, was staatliche Machtkonzentration eigentlich bedeuten kann. Exemplarisch für diese offensichtliche Machtfülle steht das Infektionsschutzgesetz, das von Restriktionen der Gewerbefreiheit bis zu Einschränkungen der Freizügigkeit und der Religionsausübung ein seit der Nachkriegszeit nie dagewesenes Instrumentarium von Durchsetzungsmaßnahmen bereithält. Diese Alltäglichkeit ist Risiko und Chance zugleich. Das Risiko liegt in der Gewöhnung, in der zermürbten Anerkennung des status quo und einer Akzeptanz zur Preisgabe lieb gewonnener Freiheitsrechte. Die Chance liegt in der Eröffnung einer nüchternen, durch Erfahrung geschärften Perspektive auf das Phänomen: das Verhältnis zwischen politischer Macht und Corona. Mit erster zeitlicher, emotionaler Distanz lässt sich besser denn je reflektieren, wohin unsere Demokratie in pandemischen Zeiten steuert – und vor welchen Herausforderungen und Weggabelungen die Träger der Macht stehen.

Die universellen Logiken des Ringens um Macht sind von Theoretikern wie Heinrich Popitz, Michel Foucault, Max Weber und Aristoteles längst durchdrungen worden; und sie gelten auch in Zeiten von Corona. Dennoch lohnt es sich, einige Grundsätze zusammenzufassen. Erstens: Macht und vor allem die Konzentration staatlicher Macht bedürfen einer steten Rechtfertigung durch überzeugende Argumente und für alle nachvollziehbare Handlungsweisen. Ohne ein legitimatorisches Narrativ, das die Machtausübung überzeugend mit dem Gemeinwohl verkoppelt und selbst durch konsistente Politikgestaltung umgesetzt wird, ist Macht fragil; sie muss sich dann auf Nepotismus oder Gewalt stützen. Zweitens: Macht kann durch Ordnungsstrukturen, in Gestalt vertikaler und horizontaler Gewaltenteilung sowie durch fundamentale Grundrechte, eingehegt werden. Drittens: Die Konzentration von Macht provoziert in aller Regel die Bildung von Gegenmacht zur Sicherung von Handlungsautonomie und Vorbeugung gegen Vormachtstellungen; auf diesem Prinzip fußt nicht nur der demokratische Wettstreit selbst, sondern z.B. auch das kontinuierliche Ringen um Vorherrschaft zwischen Politik und Ökonomie.

Auf den ersten Blick bilden die politischen Aktionsmuster im Kontext der Coronapandemie eine außergewöhnlich erfolgreiche diskursive Machtpraktik; freilich, und um es in aller Klarheit festzuhalten, nicht im Sinne einer ‚großen Verschwörung’ des Establishments (dafür wäre die Krisenlage ohnehin viel zu komplex und die Strategiefähigkeit der Akteure zu gering), sondern als antrainierter Reflex der Entscheidungsträger, im Augenblicke der Krise Befugnisse und Ressourcen für alle erkennbar an sich zu ziehen. In der Tat: Durch die Mobilisierung existenzieller Ängste (vor dem eigenen Tod oder den Auswirkungen von Long-Covid) und Hoffnungen (auf besseren Schutz durch die nächste Booster-Impfung oder die erlösende Durchseuchung der Gesellschaft) und eine Dramaturgie der kontinuierlichen Eskalation immer neuer Mutanten schafft die diskursive Praktik der Pandemie stetig Chancen der Legitimation und der Verknüpfung von politischer Autorität mit fachlicher Expertise. Mit Corona, scheint es, schlägt die Stunde der Technokratie und medizinischen Taxonomie. Nicht erst seit der Einrichtung des Expertenrats der Bunderegierung bedienen sich Amts- und Entscheidungsträger im Angesicht der Pandemie des (natur-)wissenschaftlichen Jargons mit seinem abstrakten Wortschatz und seinen Dogmen: objektive Messbarkeit und Quantifizierbarkeit, Falsifikation und Wahrheit, Prognostik und Präzision – allesamt Begriffe, die der politischen Arena, vom Kompromiss und vom Ausgleich subjektiver Interessen lebend, wesensfremd sind. Vielleicht liegt gerade in dieser akademischen Bemäntelung des Politischen ein Erfolgsrezept.

Doch manchmal trügt der erste Blick. Denn der Erfolg der diskursiven Machtpraktik im Kontext der Pandemie erweist bei näherem Hinsehen als Chimäre, die Macht entpuppt sich schnell als Ohnmacht. Erstens ist es der Bundespolitik trotz der kurzfristigen Bündelung vieler exekutiven und legislativen Zuständigkeiten nicht gelungen, ihre neuen Herrschaftsressourcen in eine erfolgreiche Krisenbewältigung umzumünzen. Wie vor zwei Jahren hinken die Entscheidungsträger dem Pandemiegeschehen reaktiv hinterher; statt proaktiver, strategischer Planung und vorausschauender Antizipation sind es immer wieder diese reaktiven Ad-hoc-Entscheidungen (sinkende Zahlen münden in Lockerungen, neue Wellen in neuen Restriktionen) die das politische Handeln prägen. SARS-CoV-19 ist so wenig eingedämmt wie eh und je, aber anstelle eines Bekenntnisses, mit dem Virus leben zu müssen (und zu können), bleibt es bei emotionalen Durchhalte- und Entschuldigungsparolen. Anstelle einer holistischen Krisenbetrachtung, die wirtschaftliche, mentale, gesellschaftliche oder kulturelle Negativeffekte in die Lage- und Maßnahmenbewertungen einpreist und abwägt, hört man stets dasselbe Mantra: Inzidenz, Inzidenz, Inzidenz. Hier lohnt es sich auf die Bedeutungsverschiebung zwischen dem modernen, weberschen Machtbegriff – als Chance, seinen Willen gegen andere Interessen durchzusetzen – und dem klassischen, aristotelischen Machtbegriff „dynamis“ – als Vermögen zum planvollen Gestalten seiner Umwelt – acht zu haben. Dominanz über Menschen und Institutionen ist nicht per se dasselbe wie Gestaltungsfähigkeit; und wer aufs Geratewohl meint, erstere in letztere konvertieren zu können, ist zum Scheitern verurteilt.

Zweitens und analytisch eng mit dem ersten Punkt verbunden, hält die derzeitige Corona-Zwischenbilanz der deutschen Politik eine wichtige Lektion für Entscheidungsträger bereit: Macht, im weberschen Sinne von Dominanz, duldet keine Schwäche. Die Coronapandemie legt schonungslos die Herausforderung von Macht, Machtstrukturen und ihrer Machtträger offen. Je mehr Machtressourcen die Akteure für sich beanspruchen und je größer die „Zumutungen für die Demokratie werden“ desto größer ist der Erfolgsdruck – und die Fallhöhe. Die Logik hinter dieser Äquivalenzbeziehung ist denkbar einfach: Im Gegenzug für die Gewährung von immer mehr Herrschaftsmacht erwarten die Bürger des 21. Jhr. etwas, z.B. Sicherheitsgarantien, umfassender Schutz und Fürsorge, eine Komplexitätsreduktion der risikoreichen, Welt. Hier tritt uns unvermittelt Sloterdijks mahnendes Zerrbild eines quasitotalen „Allomutterstaats“ entgegen, der sich der Rundumversorgung seiner verwöhnten, anspruchsvollen Kinderbürger widmet. Freilich sind all dies Erwartungen, denen kein Staat – zumal in unserer hochbeschleunigten, globalisierten Postmoderne, in denen alle Politikfelder vernetzt sind – hoffen kann, gerecht zu werden.

Die Enttäuschung und damit der Vorwurf des Staatsversagens sind vorprogrammiert, zumal in den Demokratien der Gegenwart eine hohe Systemtransparenz sowie eine kritische Medienlandschaft und ein zunehmend professionalisierter NGO-Sektor dafür sorgen, dass Fehl- oder inkonsistente Entscheidungen unmittelbar publik werden. Für die Politik bedeutet dies eine erhebliche Gefahr. Machtträger, die mit ihrer Performance hinter den – durch eigene Machtkonzentration unrealistisch nach oben geschraubten – Erwartungen der Bürger zurückbleiben, schaffen Räume für neue Trägerakteure von Gegenmacht. Steigert sich dies zu einer erkennbaren Machtüberforderung sowohl bei der Diskurssetzung als auch der praktischen Umsetzung, besteht die Gefahr einer machtlogischen Transformationslücke – das legitimatorische Fundament des status quo wird brüchig. Wenn gar eine ganze Klasse an Machtträgern zu häufig und zu schnell versagen, gerät das Herrschaftssystem selbst ins Ungleichgewicht.

Eine leise Vorahnung davon erleben wir schon jetzt. Die nicht abreißen wollenden bundesweiten, aber auch europäischen Proteste gegen die geltenden Coronamaßnahmen und insbesondere gegen eine geplante Impfpflicht, die fortschreitende Polarisierung der Gesellschaft und die Marginalisierung einer moderaten, moderierenden Mitte, die erfolgreiche Mobilisierung militanter, in ideologischen Parallelwelten beheimateter Coronaleugner, Impfgegner, Aluhutträger, Staatsskeptiker – all dies sind (auch) Effekte einer schlingernden Machtperformance. Die Machtträger haben ihre Gegenspieler selbst gestärkt.

Was ist zu tun?

Es gibt keine universelle Blaupause für politische Krisenbewältigung oder dafür, wie mit einer oft selbstgeschürten, dramatisch überzogenen Erwartungshaltung an die Leistungsfähigkeit staatlicher Institutionen und – vor allem – ihrer Amtsträger umzugehen ist. Was bleibt, ist das Prinzip der Selbstbescheidung. Das bedeutet gegen den ersten Instinkt, aber aus Einsicht in die eigene Fehlbarkeit seinen Machtanspruch zu bezähmen, um aus der Eskalationsspirale (immer mehr Macht schafft immer größere Erwartungen und gleichsam immer mehr Risiken zu versagen) auszusteigen. Damit sind wir unversehens bei einer politischen Doktrin gelandet, die in der hochpolarisierten Postmoderne ein wenig in Vergessenheit geraten ist: dem klassischen Liberalismus mit seiner Balance of Power und weltanschaulichen Neutralität, dem Fokus auf Abwehrrechten und dem zum Nachwächterstaat bewusst entmachteten Leviathan. Ein Leviathan, welcher in einem eng umzirkelten Zuständigkeitsbereich seiner Verantwortung nachgeht, ohne in politikfremden Machtfeldern wie Wirtschaft, Kultur oder Wissenschaft zu wildern. Freilich, so ließe sich einwenden, ist der Liberalismus vor allem eine Frage des institutionellen Designs. Macht wird durch Checks and Balances eingehegt, die der Anwendung staatlicher Gewalt ihrerseits mit Gegenmacht begegnet; und davon haben wir hierzulande mehr als genug. Und doch ist dies nicht alles. Denn die Zügelung des individuellen und kollektiven Machtanspruchs, sie kann – angelehnt an Ernst-Wolfgang Böckenförde – gerade nicht erzwungen werden. Sie fußt auf einem Ethos der praktischen Klugheit und auf einem tiefen Respekt vor anderen, auch inkommensurablen gesellschaftlichen Positionen. Das Selbstbild einer politischen Elite als letztes Bollwerk im Kampf gegen Corona oder, was das betrifft, als Heilsbringer im Angesicht der Klimakatastrophe ist mit diesem Ideal schwer zu vereinbaren. Noch immer herrscht dort das Dogma, dass mehr Macht in jedem Fall besser ist. Zweifellos hat es immer Genies der Machtperformance, wie Katharina die Große, Otto von Bismarck, Friedrich Ebert, Mahatma Ghandi oder Golda Meir gegeben, die auch aus größter Fallhöhe noch souverän, d.h. sowohl habituell-instinktiv als auch geplant und strategisch die Klaviatur der Herrschaft bedient haben, ohne dabei den Überblick zu verlieren und machttrunken zu werden. Aber diese Individuen sind rar gesät.