Eine gekürzte Fassung dieses Beitrags ist am 27.9.2017 in der Welt als Gastkommentar erschienen
Die Alternative für Deutschland hat als drittstärkste Kraft den Sprung in den Bundestag geschafft. In den ungläubigen Schauder der politischen Kommentatoren und etablierten Parteien mischen sich immer hektischer werdende Fragen: Wie muss man mit den Rechtspopulisten im Parlament umgehen? Wie sie bekämpfen? Politische Winkelzüge, etwa der Vorstoß zur Bestimmung des Alterspräsidenten, sollen deren Abgeordnete von prestigeträchtigen Ämtern fernhalten. Sogar eine Lex Afd wird diskutiert. Parallel diskutieren Interessenvertreter, ob man AfD-Abgeordnete auf parlamentarische Abende einladen dürfe, ja, ob es überhaupt zulässig sei, mit ihnen den Dialog über politische Themen zu suchen.
So verständlich – ja menschlich – solche Reaktionen sind, sie gehen am Problem vorbei, und sie versperren den Blick auf die tatsächliche Herausforderung unseres politischen Systems: eine schonungslose Selbstkritik des Establishments und eine aufrichtige Ursachenforschung zum Aufstieg des Rechtspopulismus. Der Erfolg der AfD liegt nicht primär in der Verlockung ihrer völkischen und islamophoben Parolen, sondern in einem fundamentalen Vertrauensverlust der Bevölkerung in die parlamentarische Demokratie und, in noch viel größerem Maße, die Europäische Union. Die Entfremdung zwischen Bürgern und Eliten erstreckt sich auf uns Interessenvertreter, Bürokratien, Verbände, Gewerkschaften, Medien und unsere Volksvertreter selbst – kurz, den gesamten politischen Kosmos. Sie entspringt nicht irgendeiner Laune oder den vermeintlich manipulativen Effekten der sozialen Medien, sondern sie hat handfeste Gründe.
Der erste ist die fehlende Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit im politischen Diskurs. Politik ist Macht und Entscheidung. Sie ist kein pareto-optimales Problemmanagement, sondern ein knallharter Wettstreit gesellschaftlicher Werte und Interessen um die Deutungshoheit über das Gemeinwohl. Wer den kompetitiven Charakter der Politik verschleiert – wie zuletzt Merkel und Schulz bei ihrem ‚Fernseh-Duett‘ – und ein allseitiges Streben nach Harmonie vorgaukelt, erzeugt nicht nur ein Zerrbild der Realität, sondern auch den fatalen Eindruck einer geschlossenen, gegen den Bürger verschworenen Politikkaste.
Der zweite Entfremdungsgrund betrifft das Feld der politischen Sprache. Aussagen von Entscheidungsträgern sollen Orientierung bieten, klare Inhalte und Positionen vermitteln, Anliegen, Erwartungen und Sorgen von Bürgern aufgreifen, und vor allem müssen sie verständlich sein. Die durch Political Correctness verfremdete und aus Angst vor der Vergrämung irgendeiner sozialen Interessensgruppe weichgespülte Diktion des politischen Mainstreams erfüllt keine dieser Anforderungen. Wer es allen rechtmachen will, der macht es niemandem mehr recht – außer vielleicht dem intellektuellen Universitätsmilieu, das mit großer Leidenschaft unzählige Sprachregeln und -verbote des politischen Diskurses ersonnen hat.
Als dritter Faktor drängt sich das eklatante Mitbestimmungs- und Responsivitätsproblem der Politik auf, potenziert durch die supranationale Entscheidungsebene der EU. Selten kommt die Missachtung des Volkswillens so deutlich zum Ausdruck, wie in der Ankündigung des Kommissionspräsidenten, alsbald noch mehr Länder in den Euro und in den Schengenraum zu holen. Was an dieser Bekundung verstört, ist nicht nur das Desinteresse der EU-Bürokratie an der faktischen Stimmungslage unter den europäischen Bevölkerungen, sondern auch das phlegmatische Gewähren-Lassen durch die gewählten Vertreter der deutschen Nation. Wer derart abgehoben regiert, kann und darf sich nicht beschweren, wenn Europas Rechtspopulisten erfolgreich Ressentiments gegen das Establishment schüren.
Wenn diese Gründe für die Vertrauenserosion zwischen Bevölkerung und Politik selbstkritisch reflektiert werden und in einen Paradigmenwechsel der demokratischen Kultur bei Volksvertretern, Interessenvertretern und allen anderen Protagonisten des politischen Kosmos einmünden, ist schon viel gewonnen. Denn: Bei allem Defätismus sind die Agitatoren der AfD mit wenigen gefährlichen Ausnahmen vor allem eines – politische Dilettanten, die sich durch inhaltliche Auseinandersetzung, nicht aber durch eine Dämonisierung, entzaubern lassen. Bevor die Entscheidungsträger diese Konfrontation aufnehmen, sind sie jedoch gut beraten, die Tugenden der Ehrlichkeit und der klaren Sprache zu beherzigen und das Prinzip der Volksherrschaft beim Wort zu nehmen.